Fragen zum Film JOY – von Sudabeh Mortezai

JOY erzählt die Geschichte einer jungen Nigerianerin, die im Teufelskreis von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung gefangen ist. Sie arbeitet in Wien als Prostituierte, um sich von ihrer Zuhälterin, der Madame, freizukaufen, ihre Familie in Nigeria zu unterstützen und ihrer kleinen Tochter eine Zukunft zu sichern. Obwohl die Freiheit für Joy in greifbarer Nähe ist, scheint ein Ausbruch aus dem perfiden Kreislauf des Menschenhandels unmöglich. Opfer, Komplizin, Ausbeuterin, die Rollen sind fließend in diesem gnadenlosen System der Ausbeutung.

Der österreichische Film hat zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten.

FREE ME wurde von der Regiesseurin Sudabeh Mortezai und der Produktionsfirma Freibeuterfilm  zu einigen Sondervorstellungen eingeladen, wo im Anschluss jeweils eine Podiumsdiskussionen mit Experten stattfandt und Fragen des Publikum beantwortet wurden.

Der Film zeichnet für Kenner des Themas ein sehr realistisches Bild, aber die Fragen und Reaktionen der Zusehen zeigen, dass für viele sind einige der Szenen sehr verwirrend sind und Fragen aufwerfen. Osato hat hier einige Antworten und Insiderinformationen zu manchen Szenen des Films aus ihrem Blickwinkel zusammengestellt, die manche Szenen und den kulturellen Kontext erklären.

WICHTIG – Spoiler Alert. Wir empfehlen die FAQs erst anzusehen, nachdem sie den Film gesehen haben.

Wenn Sie Fragen zum Film haben, die hier nicht beantwortet sind – schicken sie einfach ein Email an robert@free-me.org und wir beantworten sei direkt oder werden sie hier auf der Seite ergänzen.

Eine Frage die immer wieder kam, war: Was kann man denn tun, um zu helfen? FREE ME macht Projekte, um zu verhindern, dass Frauen überhaupt Opfer von Menschenhandel werden. Informationen finden sie hier auf dieser Website. Am einfachsten helfen Sie mit einer Spende

  1. Das Ritual
  2. Die „freie“ Entscheidung
  3. Precious erster und zweiter Anruf zu Hause
  4. Die Vergewaltigung
  5. Die Nichte der Madame
  6. Warum Joy nicht gegen ihre Madame aussagen will
  7. Die Lügen von Joys Familie
  8. Die Versteigerung und Joy wird zur Madame
  9. Joy wird deportiert und will zurück (plus das Geld sprühen)

1.Das RITUAL: Die JUJU Ritua Szene am Beginn des Films erscheint vielen Menschen aus einer westlichen Kultur eigenartig und verstörend. Ein Mädchen leistet einen Schwur, dass sie alle Schulden, die  ihr ihr Menschenhändler auferlegt, abbezahlen wird und  nicht zur Polizei gehen wird. Für den Fall, dass sie den Schwur bricht, wird ihr und ihrer Familie Schlimmes geschehen, Krankheit, Unglück und Tod.

Für die Frauen und Mädchen, die gezwungen werden diesen Schwur zu leisten, hat dieser Eid eine enorme bindende Kraft. Eine Besonderheit des Menschenhandels aus Nigeria. Die Frauen in einer Kultur auf, wo die Angst for Juju (Voodoo) allgegenwärtig ist. Obwohl die meisten von ihnen katholisch sind, co-existiert die Juju Religion bei allen Menschen und spielt eine wichtige Rolle in der Kultur.  Die Frauen kennen alle Geschichten, wo Menschen gestorben sind, weil sie einen Eid gebrochen haben oder ein anderer Juju gegen sie eingesetzt hat. Es gibt Filme, Geschichten und Lieder, die die reale Macht des Juju darstellen. Und jedesmal wenn irgendjemand in der Familie etwas Schlechtes passiert, wird der Menschenhändler ihr sagen, dass dies auf Juju zurückzuführen ist – weil sie mit ihren Zahlungen im Rückstand ist, zuwenig Geld einbringt oder vielleicht einfach schlechte Gedanken hatte.

Der Juju Priester schneidet dem Mädchen Haare und Nägel ab (in der Realität meist Schamhaare) und ritzt ihre Haut mit einer Klinge. Diese intimen Teile ihres Körpers binden sie spirituell an den Menschenhändler und er nutzt sie drohend. Er sagt, er kann sie damit weltweit überall finden und wenn sie den Eid bricht, wird er diese Teile nutzen um ihr zu schaden. Die Teile verbleiben beim Priester und werden erst der Familie ausgehändigt, wenn sie ihre Schuld abgezahlt hat. Diese körperliche Bindung macht die Angst der Mädchen noch viel realer.

Wir kennen zahlreiche Fälle, wo der Druck dieses Eides schwere psychische Probleme bei den Opfern bewirkt hat. Auch wenn dieses Ritual nach unseren Standards „fake“ und irrational wirkt – die Angst der Mädchen und die Auswirkungen der Angst, sind sehr real.

  1. DIE „FREIE“ ENTSCHEIDUNG

Im Film wird dargestellt, dass zumindest einige der Frauen schon gewusst hätten, dass sie hier als Prostituierte arbeiten würden. Daher tun sich manche schwer, die Mädchen als Opfer zu sehen – schliesslich war es ihre Entscheidung. Auch viele der Frauen mit denen wir in FREE ME arbeiten, sehen sich selbst nicht wirklich als Opfer.

Aber natürlich ist diese „Entscheidung“ im Kontext der Situation zu sehen. Der typische Europäer lebt ein Leben mit einer Fülle von Möglichkeiten – diese Frauen haben kaum welche, aus denen sie wählen können.

Keine der Frauen „will“ Prosituierte sein. Am Beginn ihrer Reise, glauben noch viele, sie würden die Chance auf einen normalen Job haben. Aber spätestens wenn sie in einem Camp im Lybien sitzen, sagen ihnen die Menschenhändler, dass das ein Teil des Deals sein wird. Und von dort führt keine Weg mehr zurück.  In jedem Fall sind die Entscheidungen immer beeinflusst durch Armut, einen Mangel an Möglichkeiten und werden begleitet durch Drohungen, Druck, Fehlinformationen, Lügen und dem Ausnutzen falscher Vorstellungen über das Leben im Westen. All das machen sich Menschenhändler zu nutze.

Im Film fleht Precious die Madame an, dass sie diese Arbeit nicht machen könne, dass sie nicht gewusst habe, was da auf sie zukommt und wie hart es sei.

Erst hier in Europa merken die Frauen, dass sie einer Lüge aufgesessen sind. Dass ihre Traumvorstellungen nichts mit der Realität des Lebens zu tun haben und dass sie in der Falle sitzen. Ohne Hilfe von aussen, bleibt für die meisten nur, sich in ihr Schicksal zu ergeben und das beste aus der Situation zu machen.

3. DIE BEIDEN ANRUFE VON PRECIOUS: Die meisten Afrikaner kennen das Leben in Europa nur von Filmen. Im Vergleich zu ihrem Alltag erscheint das Leben hier leicht und unbeschwert und so wird ein Leben in Europa das Synonym für ein besseres Leben. Ihre Vorstellung ist ein einfaches Leben hier mit viel Freiheit und so vielen Möglichkeiten Geld zu verdienen. Als ich (Osato) klein war, dachte ich, dass die ärmste Person in Europa reicher ist, als der reichste Mann in Benin City. Das ist natürlich nicht richtig, aber immer noch sehen es viele Afrikaner so. Dies sehen wir in Precious erstem Anruf zu Hause in Afrika. Sie erzählt der Person am anderen Ende der Leitung, wie wunderschön es hier ist und dass es immer elektrisches Licht gibt (in Benin City ist es normal, dass nur 2-3 Stunden am Tag Strom aus der Leitung fliesst). Precious hat noch hohe Erwartungen und will ihrer Familie Hoffnung geben. Sie hat noch nicht verstanden, dass es nicht so wie im Kino weitergehen wird. Sie erzählt, dass sie bald viel Geld verdienen wird und es nach Hause schicken wird, weil sie annimmt, es würde leicht werden, wie es ihr suggeriert wurde. Die meisten Nigerianerinnen glauben die Geschichten der Menschenhändler, dass sie innerhalb weniger Monate in Europa reich werden können. In der Realität gelingt es nur wenigen überhaupt ihre Schulden zurückzubezahlen – und wenn dann dauert es viele Jahre.

In ihrem zweiten Anruf, hat ihre Perspektive bereits gewechselt. Sie streitet mit der Person am anderen Ende der Leitung, fühlt sich unverstanden. Sie versucht zu erklären, wie hart es ist, hier Geld zu verdienen, und dass ihr  leben alles andere als einfach verläuft.

Von allen Opfern von Menschenhändlern wird erwartet, dass sie ihre Familien unterstützen. All fühlen sich ein wenig schuldig, wenn sie das nicht oder nicht in ausreichendem Masse schaffen, Geld zu schicken. Und die Familien zu Hause – verstehen nicht – wie die Tochter, obwohl sie jetzt im reichen Westen ist, nicht mehr Geld schicken kann.

4. DIE VERGEWALTIGUNGS SZENE: Einige fragen sich bei der Szene, warum die Frauen nicht eingreifen, als Precious von den Gehilfen der Madame vergewaltigt wird. Sie sind sechs gegen zwei. Oder sie könnten die Polizei rufen.

Natürlich haben sie selbst Angst, nicht bei der Madame in Ungnade zu fallen. Aber zusätzlich wäre es eine schlimme Schande, einen Landsmann zu denunzieren, selbst wenn er etwas Schlechtes tut, wofür er Gefängnis verdient hätte. Viele Nigerianer würden es als Betrug am eigenen Volk sehen.

Ausserdem ist das was Precious geschieht, ihnen allen selbst geschehen. Methodisches Vergewaltigen zum Brechen der Psyche der Frauen entlang der sogenannten Mittelmeer Route und hier im Rotlicht Milieu ist Teil des Systems. Und da es jeder Frau passiert, ist es sozusagen fast schon „normal“ – und etwas was man eben erleiden muss. Und für viele ist es noch lange nicht das Schlimmste, was ihnen widerfahren kann.

5.DIE NICHTE DER MADAME: Eine der Frauen ist recht aufsässig gegenüber der Madame, zumindest weniger devot wie die anderen. Sie übergibt das Geld nicht gebündelt wie die anderen, macht kritische Kommentare, etc.. . Später im Film erfahren wir, dass sie die leibliche Nichte der Madame ist.  Viele haben es für unglaubwürdig gehalten, dass ein Zuhälterin sogar eine Blutsverwandte ausbeuten würde, aber in der Realität kommt das sogar oft vor. Menschenhändler wissen zwar, dass sie gegen das Gesetz verstossen, aber viele von ihnen sehen es eigentlich als ein ganz normales Business, dass sie ausüben. Manche sehen sich sogar als Wohltäter, weil sie den Frauen die Möglichkeit geben, nach Europa zu kommen – und das ausbeuterische dieses Deals, ist ihnen schliesslich auch selber passiert. In vielen Familien in Nigeria wird nicht gross nachgefragt, was denn in Europa die Tochter zu machen hat  – solange es Geld bringen wird – und sie sind froh, wenn die „Tante aus Europa“ anbietet, die Reisekosten vorzustrecken. Die Nichte muss dann aber wie jeder andere das 20-50-fache zurückzahlen.

6.JOYS WEIGERUNG GEGEN IHRE MADAME AUSZUSAGEN: Bei der Vergewaltigungsszene haben wir schon erwähnt, dass einen anderen Nigerianer der Polizei zu melden generell als Schande in der Gesellschaft gesehen wird.  Aber gegen ihre Madame auszusagen, bedeutet gleichzeitig auch, dass gegen den Juju Schwur verstossen wird und die Frauen haben wahnsinnige Angst vor den damit verbundenen Konsequenzen.

Zusätzlich haben Nigerianer wenig Vertrauen in Behörden und dass diese überhaupt helfen können. In der Realität haben die Frauen oft viel mehr Angst vor unserer Polizei, als vor ihren Menschenhändlern. Traurigerweise ist diese Skepsis sehr berechtigt. In den meisten europäischen Ländern können Opfer von Menschenhandel wenig Hilfe erwarten. In Österreich erhalten Frauen, die gegen ihre Menschenhändler aussagen, meist bestenfalls ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht während des Verfahrens – und werden danach aber oft trotzdem abgeschoben, weil Opfer von Menschenhandel kein automatisches Asylrecht bedeutet.

Joy hat Angst, wenn sie ihre Madame anzeigt, dass ihre Familie in Gefahr durch den Juju Schwur ist. In einer Szene nachdem sie mit ihrem Bekannten bei einem Verein nur über die Möglichkeit redet , erfährt sie kurz darauf, dass ihr Vater angeblich schwer erkrankt ist. Später finden wir zwar heraus, dass das eine Lüge ihrer Familie war, aber Joy fühlt sich sofort für die Krankheit ihres Vaters verantwortlich, weil sie bei dem Verein war. Unter Nigerianern ist es sehr normal anzunehmen, dass bei irgendeinem Unglücks das in der Familie geschieht, man selbst irgendwie verantwortlich ist, insbesondere wenn Juju im Spiel ist. Oder sie vermuten, jemand will ihnen spirituell  schaden. Menschenhändler machen sich das zu Nutze.

In der Nigerianischen Community gibt es viele, die Menschenhandel und Zwangsprostitution als „normales“ Geschäft sehen oder es zumindest als nicht besonders schlimm erachten. Die eigene Madame anzuzeigen würden sie als „die Hand zu beissen, die dich füttert“ bezeichnen. Aussserdem besteht ein tiefes Misstrauen in der nigerianischen Gesellschaft hier gegenüber „Weissen“ und sie wenden sich nur an Menschen innerhalb der Community, wo sie sich besser verstanden fühlen. Für Frauen, die nur Kontakte in der Subkultur hier haben, ist daher ein Aussteigen oder Auflehnen gegen das System eine Möglichkeit, die sie gar nicht in Betracht ziehen.

7. DIE LÜGEN VON JOYs FAMILIE, um GELD VON IHR ZU BEKOMMEN:

Familien in Edo State denken, es ist leicht in Europa Geld zu machen – insbesondere für Frauen. Sie hinterfragen nicht gross, was die Frauen wirklich tun müssen, um zu Geld zu kommen. Die Wahrheit wäre beschämend und so vermeiden sie zu genaue Fragen.  Sie alle haben ihre eigenen Bedürfnisse und Nöte und so blocken sie, was ihre Tochter in Europa wirklich tut. Sie sind froh, wenn sie sich mehr leisten können, als ihre Nachbarn und berichten stolz eine „reiche“ Tochter in Europa zu haben, die Geld schickt. Es hilft dem sozialen Status der Familie, eine Verbindung ins glorreiche Europa zu haben.

Joys Familie lügt, dass der Vater krank sei und eine teure Behandlung brauche. Joy, die sich ohnehin für die Familie verantwortlich fühlt, weil sie es nach Europa geschafft hat, fühlt sich zusätzlich schuldig, weil sie vermutet, ihr Verhalten habe bösen Juju auf ihren Vater gebracht und die Krankheit verursacht. Also schickt sie ihre Ersparnisse.

Später erfährt sie von der Madame, die in Nigeria war, dass es dem Vater gut geht und der Bruder ein neues Auto hat.

Diese oder eine ähnliche Geschichte haben viele der Opfer mit denen wir arbeiten erlebt und alle leiden sehr unter diesem Konflikt. Der Liebe zur Familie einerseits und das Bedürfnis sie zu versorgen  – und dem Misstrauen, bei Fragen nach Geld.

Es ist nicht ungewöhnlich dramatische erfundene Szenarien aufzubieten, wenn man die Tochter in Europa nach Geld fragt. Manchmal werden Dinge erfunden, manchmal die Kosten für reale Bedürfnisse überzogen dargestellt.

Uns mag das schrecklich erscheinen, aber die Realität ist, das Leben in Nigeria ist hart und alle Opfer hier kommen aus bedürftigen Familien. Wenn man in Österreich eher arm ist, hat man wahrscheinlich trotzdem eine Wohnmöglichkeit, Kleidung, Nahrung und Zugang zu medizinischer Versorgung. Das ist in Nigeria nicht so. Das einzige soziale Netzwerk ist die Familie. Und wenn man selber bedürftig ist, erscheint eine kleine Lüge, um die Schwester, die ohnehin im reichen Europa lebt, zu motivieren Geld zu senden, weniger schlimm. Vor allem – wenn du kaum andere Möglichkeiten hast.

8. DIE SKLAVEN AUKTION und JOY WIRD ZUR MADAME: Viele Leute haben uns gefragt, ob so etwas in Wien wirklich möglich wäre – eine Sklavenauktion? Und dass es hauptsächlich Frauen sind, die andere Frauen kaufen? – Die traurige Wahrheit. Ja.

Es ist eine Art Kreislauf und ein Besonderheit des Menschenhandels aus Nigeria, dass einige der Opfer, nachdem sie ihre Schulden bezahlt haben, selbst zu Menschenhändlern werden und Mädchen durch den selben Prozess führen, den sie selbst durchgemacht haben. Während sie selbst noch ihre Madame bezahlen müssen, ist das ihr einziges Ziel und sie erwarten, dass danach alles besser wird. Erst wenn sie ihre Schuld bezahlt haben (im Regelfall erst nach vielen Jahren – manche schaffen es nie) realisieren sie, dass sie immer noch in einer hoffnungslosen Situation ohne grosse Möglichkeiten sind. Sie sind weiterhin Prostituierte – eine Tätigkeit, die sie eigentlich nicht machen wollen, aber sie haben kaum andere Möglichkeiten – also wählen sie diese. Eine der wenige Möglichkeiten eines „Fortschritts“ ist in dem System aufzusteigen, und selbst zur Madame zu werden. Auch die Madame im Film war vorher ein Opfer – und so setzt sich der Kreislauf fort. Es ist ein häufiges psychologisches Phänomen, dass jemand der selbst missbraucht wurde, mit einer höher Wahrscheinlichkeit als andere zum Täter wird.

Es hat auch mit der mangelnden Integration in der Gesellschaft hier zu tun. Während sie unter der Kontrolle der Menschenhändler stehen, gibt es bis auf Freier nur wenig bis keinen Kontakt zur Aussenwelt. Auch wenn sie ausgebeutet werden – so bietet das Leben unter der Madame doch zumindest eine Struktur und soziale Kontakte. Das bedeutet, dass die Frauen nachdem sie ihre Schulden bezahlt haben, ohne jegliche Struktur ihr Leben in einer fremden Welt völlig neu aufbauen müssen. Die meisten sind illegal hier, sie müssen ihr Leben finanzieren und die Familien in Afrika unterstützen.  Chance auf eine andere gut bezahlte Arbeit besteht kaum. Dann erscheint plötzlich ein Rollenwechsel, wie ein interessante Alternative.

9.JOY WIRD ABGESCHOBEN UND WILL ZURÜCK NACH EUROPA (plus das Geld versprühen): Wenn eine Frau nach vielen Jahren geschafft hat, ihre Schulden beim Menschenhändler abzuzahlen – wird sie für die Madame zu einer Gefahr. Auch wenn der „Abschied“ gefeiert wird, bedeutet es für die Madame Kontrollverlust. Sie sieht ab sofort eine mögliche Konkurrentin, jemand der am Sexmarkt Kunden wegnimmt und eventuell ohne den Druck des Juju Eides doch zu den Behörden geht. So wie im Film, kommt es auch in Wirklichkeit oft vor, dass die Frauen dann von der eigenen Madame angezeigt werden und abgeschoben werden.

Im Film sehen wir, dass Joy in Nigeria angekommen, wieder Kontakt zu Menschenhändlern sucht, um sie wieder zurück nach Europa zu bringen. Wir fragen uns – warum will sie freiwillig wieder zurück – warum versucht sie nicht in Nigeria ein Leben aufzubauen?

In der letzen Szene sieht man Joy als Geldwechslerin bei einem Fest. Sie wechselt grosse Scheine in grosse Bündel kleiner Scheine, die ihre Kunden dann auf die Tänzer werfen.

Dieser Brauch erscheint uns dekadent und das ist er auch – aber in Nigeria ist es ein sehr beliebtes und normales Ritual bei vielen Festen. Festgäste (meistens Wohlhabende) sprühen Geld auf Tänzer oder Musiker, um anzugeben, zu zeigen dass man es zu etwas im Leben gebracht hat und es sich leisten kann, mit Geld um sich zu werfen. Gleichzeitig ist es ein Geschenk an den Veranstalter des Festes und dient meist zur Bezahlung der Unterhaltung. Manchmal wird es zu einer Art Wettbewerb, wer mehr Geld versprüht.

Joy sieht in der Szene sehr unglücklich aus. Sie sollte es geschafft haben, als jemand der in Europa war. Sie sollte diejenige sein, die es sich leisten kann, Geld zu versprühen – stattdessen ist sie am untersten Rand der Gesellschaft in Nigeria angekommen.  Frauen die ohne Geld aus Europa zurückkommen, gelten in Nigeria als Versager, als Abschaum der Gesellschaft. Sie werden von den Familien verstossen, die vorher von ihr unterstützt wurden. Mit der Ablehnung und der Scham zu leben ist für die Frauen unerträglich und sie sind willige Opfer für Menschenhändler, wieder auf die Reise geschickt zu werden. Der neuerlich Versuch ist für Joy die einzige Chance, zu ihrer Tochter zurückzukehren.